
Dezember 2022
Interview mit Valmir Soares de Maceda
1. Ein weiteres Jahr neigt sich dem Ende zu. Wie ist das Jahr für das CAV verlaufen? Welche Höhe- oder Tiefpunkte gab es? Was bereitet Ihnen Sorgen und was gibt Ihnen Hoffnung?
Das Jahr 2022 war in mehrfacher Hinsicht ein Jahr grosser Herausforderungen, vor allem weil es ein Jahr der Wahlen war (Landesregierungen, Parlament, Präsidentschaft). Abgesehen von den Wahlen und den Erwartungen für die gewünschten Veränderungen, liegt eine der grössten Herausforderungen nach wie vor im finanziellen Bereich der Organisationen der Zivilgesellschaft. Diese haben in den letzten vier Jahren wichtige staatliche Unterstützung verloren. Jedes Jahr wird deutlich, dass dies die Stärke der Organisationen "untergräbt", es wird immer schwieriger, die Projekte und Aktionen fortzusetzen, die zur Veränderung der historisch schwierigen Realität in einer Region wie

dem Jequitinhonha-Tal notwendig wären. Aber es gibt auch viel zu feiern; das CAV ist strategische Partnerschaften mit internationalen Partnern eingegangen, dazu gehört auch Voz do Cerrado, die internationale Kampagne für die Biodiversität und gegen Monokulturen hat sich im Jahr 2022 gut entwickelt, indem sie zum Beispiel wissenschaftliche Resultate zusammengestellt hat, welche die Grundlage für eine Beschwerde bei FSC ist. Das CAV hat ausserdem in Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern und in eigener Verwaltung, einen Bagger in Betrieb genommen, mit dem kleine Dämme zum Auffangen von Regenwasser gebaut werden können - ein Traum, der in dieser Region kollektiv mit den Bauernfamilien verwirklicht wird. Neben den kleinen Dämmen wurden bei den Familien mit zertifizierter ökologischer Produktion auch andere Sozialtechnologien eingeführt, wie z. B. die ökologischen Kleinkläranlagen.
Wir sind aber auch besorgt darüber, wie Bolsonaro das Land verlassen wird, sowohl bzgl. der physischen und wirtschaftlichen Struktur als auch bzgl. einer Bevölkerung, die stark polarisiert ist, von Hassreden und Lügen kontaminierte Wahlen hinter sich hat, als Teil einer Strategie der extremen Rechten. Die Rückkehr Lulas, einer Führungspersönlichkeit mit sozialistischen Prinzipien, der immer für das Volk gekämpft hat, gibt uns Hoffnung.
2. Brasilien hat vor Kurzem mit Lula da Silva einen neuen Präsidenten gewählt. Was bedeutet diese Wahl für das CAV und das Jequitinhonha-Tal?
In der Vorstellung der Gutmenschen würde diese Wahl das Ende eines vierjährigen Zyklus einer Regierung markieren, die eine antisoziale Agenda verfolgt und die Schwächsten der brasilianischen Gesellschaft, wie Schwarze, Indigene, Frauen, die LGBTQIA+-Bevölkerung und andere, ausschliesst. Eine Regierung, die sich nicht um die soziale Entwicklung, die Ernährungssicherheit, die Umwelt und andere Agenden kümmert, die der Bevölkerung am Herzen liegen, welche am meisten unter den Auswirkungen der Agrarindustrie, der konservativen und im Wesentlichen kapitalistischen Politik leidet.
Damit dieses Jahr aber das Ende dieses Zyklus markiert, bedarf es eines grossen Kampfes, eines grossen Widerstands der benachteiligten Klassen, der oben genannten, die unter der Politik des Hasses, der Verfolgung und der Unmenschlichkeit gelitten haben.
Das CAV gehört hier dazu, denn in den letzten vier Jahren hat die Bundesregierung, die Räte aufgelöst, in welchen die Zivilgesellschaft Einsitz hatte, die Finanzierung von Massnahmen zur Ernährungssicherheit, zum Umweltschutz und der spezifischen Programme für die Trockenregion eingestellt. Das CAV und viele andere Organisationen, die seit 2001 kontinuierlich Programme für den Zugang zu und die Bewirtschaftung von Wasser durchführten, haben von der aktuellen Regierung keinen einzigen Rappen erhalten. Die Organisationen der Zivilgesellschaft erleben eine tragische Zeit, in der sie ihre Ressourcen, ihre Teams und die notwendigen Bedingungen für die Arbeit in ihren Gebieten verlieren. Es ist wichtig daran zu erinnern, dass das Jequitinhonha-Tal, das während der gesamten Bolsonaro-Regierung nichts, aber auch gar nichts erreicht hat, unter Lula und Dilma von der Schaffung von Universitäten, Fachhochschulen und wichtigen Programmen für die benachteiligten Bevölkerungsgruppen profitierte (Ernährungssicherheit, Absatzprogramme für die Familienlandwirtschaft, sozialer Wohnungsbau, Ausbau des Elektrizitätsnetzes, Zisternenbau, erleichterter Zugang zu Krediten etc.). Das CAV hat zur Entwicklung vieler dieser Massnahmen beigetragen und eine wichtige soziale Rolle gespielt. Das ist unser Wunsch: Wir wollen unsere führende Rolle bei der Umsetzung öffentlicher Programme zur Verbesserung der Lebensqualität und der Würde der Bevölkerung zusammen mit den Familien im ländlichen Raum wieder aufnehmen.
3. Wie haben Sie diese Wahlen erlebt, im Vorfeld aber auch die Wochen danach?
Ich habe diese Wahlen sehr aktiv mit den Menschen auf dem Land miterlebt, habe die Landwirt*innen zusammengebracht, um über den Protagonismus, die Wiederaufnahme eines Entwicklungsmodells der sozialen Integration zu sprechen. Der Austausch mit den Menschen war sehr wertvoll. Im Jequitinhonha-Tal haben fast 70 % für Lula gestimmt und damit für die Demokratie und für ihr Volk. Auf dem Land, auf dem Bauernmarkt, auf der Strasse, den Wunsch nach Veränderung zu spüren, hat uns noch mehr motiviert, für diese Region und dieses Land zu kämpfen. Aber es war auch sehr schwierig und hat traurig gestimmt, so viel Falschinformation zu hören. Ich wünsche mir das Ende des Autoritarismus, der Ablehnung, des Faschismus so sehr. Und selbst nach dem Sieg von Lula und nach viel feiern, ist mir noch nicht viel leichter ums Herz, ab der so grossen Unterstützung, die diese Fehlregierung Bolsonaro doch erhalten hat. Es ist sehr traurig zu wissen, dass selbst nach so vielen Gräueltaten, vor allem während der Pandemie, noch eine solche Unterstützung vorhanden war. Und wir wissen, dass wir in den kommenden Jahren viel um- und aufbauen müssen. Aber, lang lebe unsere Widerstandskraft, wir werden kämpfen!
4. Welche hauptsächlichen Forderungen stellen die Netzwerke, in denen das CAV arbeitet, an die neue Regierung? Was erhofft ihr euch vor allem von der neuen Regierung?
Die Verbände, Netzwerke und Räte der Zivilgesellschaft sollen Raum erhalten, sich am Aufbau der Strukturpolitik dieses Landes zu beteiligen. Wir fordern die Wiederaufnahme erfolgreicher Programme der früheren Regierungen Lula und Dilma, Investitionen in technische Hilfe und ländliche Beratung, Ausbildung, soziale Technologien für das Leben in der Trockenregion, für die Erzeugung sauberer und sozial gerechter Energie, die Wiederverwendung von Wasser und vieles mehr. Wir fordern eine Beteiligung an der Ausarbeitung des Nationalen Plans für die sanitäre Grundversorgung im ländlichen Raum und anderer emanzipatorischer Massnahmen. Förderung von Massnahmen für Frauen, Jugendliche, traditionelle Bevölkerungsgruppen, indigene Völker, LGBTQIA+.
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die sozialen Bewegungen bereits in offiziellen und inoffiziellen Kommissionen vertreten sind, die zum Übergang in die nächste Regierung beitragen. Dort werden programmatische Inhalte debattiert und vorschlagen, und auf die Forderungen der Bevölkerung abgestimmt. Unsere Erwartung ist, dass, die neue Regierung die Forderungen versucht ins Budget 2023 zu integrieren durch die Gespräche, welche sie bereits jetzt mit dem brasilianischen Kongress und Senat führt.
5. Was werden aus Ihrer Sicht die grössten Herausforderungen sein, mit denen die neue Regierung zu kämpfen hat?
Die neue Regierung wird es mit einem sehr schwierigen Parlament zu tun haben, da die Mehrheit der Abgeordneten und Senatoren mit der Regierung Bolsonaro sympathisiert. Natürlich sollte der gesamte Artikulationsprozess, der von Lula und seinem Team bereits durchgeführt wurde, dazu beitragen, dieses Szenario zu verbessern, aber die harte Arbeit des Dialogs wird eine Konstante für die neue Regierung sein.
Schwierig wird auch der Umgang mit einer sehr gespaltenen Bevölkerung sein. Es muss gelingen den Glauben an all die Verschwörungstheorien und Falschinformationen zu beenden, das Vertrauen in die offiziell konstituierte Regierung zu stärken und die Menschen in die Prozesse miteinzubeziehen. Es ist ein sehr herausfordernder sozialer Kontext.
Die Wirtschaft des Landes muss wieder ins Gleichgewicht gebracht werden, um das Wirtschaftswachstum wieder anzukurbeln, Arbeitsplätze zu schaffen, reale und regelmässige Steigerungen des Mindestlohns zu erreichen und die Sozialprogramme wieder aufzunehmen.
Die Zerstörung des Amazonas und anderer Biome, die für Brasilien und die Welt von grösster Bedeutung sind, muss gestoppt werden. Dies gelingt nur, wenn wir uns gegen die sehr reiche Agrarindustrie, die Holzindustrie und den Bergbau wenden und die internationale Zusammenarbeit mit den Grenzländern im Amazonasgebiet stärken. Es braucht dringend eine Wiederaufnahme der Politik der Verteidigung der Menschenrechte, der Bekämpfung von Rassismus und anderen Formen von Vorurteilen, welche leider während der Regierung Bolsonaro sehr verstärkt wurden. Es braucht integrative öffentliche Massnahmen für die marginalisierten und verfolgten Menschen.
6. Was wünschen Sie sich für Brasilien für die kommenden Jahre?
Ich möchte, dass Brasilien seine charakteristische Atmosphäre des Friedens, der harmonischen Geselligkeit und der Freude, die in den Menschen steckt, wiederfindet. Dass Brasilien die Armut und des Elend ein für alle Mal hinter sich lässt. Dass Brasilien eine führende Rolle in internationalen Konventionen zugunsten der Umwelt und des Klimas, des Zusammenschlusses armer und aufstrebender Länder für das gemeinsame Wachstum der Nationen, die am meisten unter Elend, Hunger und Krankheit leiden, übernimmt. Dass Brasilien in Zeiten des Krieges den Kampf für den Frieden zwischen den Völkern stärkt!